Reinhard Lehnert

Lichtmusik – eine neue Kunst?

 

 

Wir unterscheiden Künste, die sich ans Ohr, und solche, die sich ans Auge wenden: Der Dichtung und der Musik stehen die "statischen" und die "dynamischen" Bildenden Künste gegenüber, also Grafik, Malerei, Plastik und Architektur einerseits, Puppenspiel-, Theater- und Filmkunst andererseits. Die dynamischen, also die mit Bewegung verbundenen Bildenden Künste sind freilich in der Regel „gemischte“ Künste, da sie sich ans Auge und ans Ohr wenden.

Die Dichtkunst baut auf komplizierten Lautgebilden, den Worten einer Sprache, deren Gesetzen und der Logik auf. Sie ist über diese Sprache mit der Welt der Gegenstände verbunden und ist in diesem Sinne eine gegenständliche Kunst.

Die Musik dagegen gründet sich auf die einfachsten Laute, die es gibt, nämlich die Töne. Das sind Luftschwingungen, wobei die Musik aber nicht Töne beliebiger Schwingungszahl benutzt, sondern nur die Töne einer Tonleiter, höchstenfalls die zwölf Töne der Zwölfton-Leiter. Die reine Musik teilt nichts über Gegenstände mit und ist somit eine gegenstandsfreie Kunst. Die klassische Grafik, Malerei und Plastik sowie die klassische Puppenspiel-, Theater - und Filmkunst bilden Gegenstände der Außenwelt ab oder führen solche vor. Auch sie sind also gegenständliche Künste. Etwa seit dem Beginn unseres Jahrhunderts sind an die Seite dieser klassischen Darstellungsarten gegenstandsfreie Grafik, Malerei und Plastik getreten - das freie Spiel mit Linien und Farben. Formen und Flächen -, wozu in jüngster Zeit noch gegenstandsfreie Filme und verschiedene Arten von „Lichtkinetik“ - bewegtes Licht - hinzukommen.

Das Ziel, das die Schöpfer von Lichtkinetik und gegenstandsfreien Filmen letztlich anstreben, ist eine „Lichtmusik", das heißt eine Kunst, die dem Auge das bietet, was für das Ohr die Musik ist. Dieses Ziel ist bisher nicht erreicht worden. Kein lichtkinetisches Werk und kein gegenstandsfreier Film sind an künstlerischem Gehalt den Werken von Bach, Mozart und Beethoven oder auch eines geringeren Komponisten auch nur entfernt vergleichbar. Zudem stehen jedes lichtkinetische Spiel und jeder gegenstandsfreie Film für sich allein. Sie haben nichts Gemeinsames, es gibt keine Verwandtschaft, keine Überlieferung und keine Entwicklung.

Daß die Endabsicht, eine wirkliche „Lichtmusik" zu schaffen, bisher nicht erreicht wurde, hatte seine Ursache darin, daß es keine wirklich geeigneten Raster für die Formen, keine „Formleitern" gab, die für die „Lichtmusik" dasselbe leisten wie die Tonleitern für die Musik. Wir wollen diese Behauptung näher begründen.

Wer ein statisches Kunstwerk betrachten will, braucht dazu einen Stuhl; das soll heißen, der Besucher muß sich Zeit lassen, unter Umständen viel Zeit. Beim Hören oder Sehen eines mit Bewegung verbundenen Kunstwerks fehlt uns diese Zeit. Es bietet, im Gegensatz zu einem statischen Kunstwerk, in jedem Augenblick seines Ablaufens neue Eindrücke. Diese Wahrnehmungen ein Wort, ein Ton der Tonleiter, eine bestimmte Bewegung eines Schauspielers - müssen sofort erfaßt und in gewissem Sinn "erkannt" werden. Sie müssen aber auch, mehr oder weniger bewußt, für die ganze Dauer des Ablaufes "behalten" werden; das heißt, Zuschauer und Zuhörer müssen sich an die bereits gehörten Worte eines Satzes, die Strophen eines Gedichtes, die melodisch-harmonischen Themen eines Musikwerkes oder die bereits gesehenen Handlungen auf der Bühne „erinnern". Und schließlich müssen diese Eindrücke in gewisser W eise vorausgeahnt oder „vorausgesehen" werden.

Nur wenn wir die Teile eines dynamischen Kunstwerkes vorausschauen, erfassen und uns an sie erinnern können, sind wir in der Lage, das Kunstwerk als wohlgegliedertes Ganzes zu erleben, vermag es in uns einen kunstvollen „Spannungs-Hochbau" hervorzurufen. Ein Fachmann der Films (Bela Balazs, „Der Geist des Films", 1930) hat das in nachstehende Worte gefaßt: "Nur Erwartung und Folgerung können den Elementen einer Handlung eine Richtung, eine Steigerungslinie geben, die wie ein Gerüst den Bau einer größeren Fabel zusammenhalten muß. Aber folgern und erwarten kann man nur, wo es ein natürliches Verhältnis von Ursache und Wirkung gibt. Was Menschen und Tieren und sonstigen Dingen widerfahren kann, das ahnen wir sogar in einem Märchen. Was aber mit den Linien einer Zeichnung alles geschehen kann, das ist wirklich nicht vorauszusehen."

Eine vollwertige, das soll heißen, der Musik gleichwertige Lichtmusik erfordert also eine grundlegende, feste Ordnung, wie sie die Musik in den Tonleitern besitzt. Seit einigen Jahrzehnten suchen zahlreiche Erfinder und Künstler nach einem solchen Gesetz. In der Regel meinen sie, die Ordnung der Farben sei dringlicher als die der Formen. Sie begründen diese Ansicht damit, daß - physikalisch gesehen - die Farben so wie die Töne nach Frequenzen geordnete Schwingungen sind. Tatsächlich aber ist, um eine Lichtmusik zu begründen, die Ordnung der Formen entscheidend. Und das aus zwei Gründen:

Erstens ist eine natürliche Rasterordnung der Farben nach dem Beispiel der Tonleiter gar nicht möglich. Wenn zwei Töne eine Oktave, eine Ouint, eine Ouart, eine große oder kleine Terz bilden, klingen sie harmonisch zusammen. Wird aber einer der beiden Töne um ein weniges gehoben oder gesenkt, dann entsteht ein Mißklang. Diese Dissonanz klingt merkwürdigerweise um so schärfer, je weniger der Ton verschoben wird. Wir sagen: Der Ton rastet in bezug auf den Grundton an einer genau bestimmten Stelle harmonisch ein. Das aber gibt es bei den Farben nicht. Wenn zwei Farben miteinander harmonieren, dann macht es kaum etwas aus, wenn sich eine der beiden geringfügig verändert.

Und zweitens: Je mehr Farben eine Form zeigen soll, aus desto mehr Teilstücken muß sie bestehen, desto umfassender muß sie also sein. Umgekehrt aber können verzwickteste Formen mit nur zwei Farben dargestellt werden. Es liegt deshalb die Vermutung nahe, daß es „Formleitern" gibt, die imstande sind, für eine vollwertige „Lichtmusik" dasselbe zu leisten wie die Tonleitern für die Musik. Solche finden sich in der Tat. Es sind gewisse geometrische Figuren. Wir nennen sie die „Innenstern", die auf ihnen zu entwerfenden Bilder und Filme die „Innenbilder" und die „Innenspiele".

Die ,,Innensterne" zeichnen sich vor allen anderen denkbaren ebenen Formleitern dadurch aus, daß sie zwei Eigenschaften zugleich besitzen: Sie sind zum einen gleichförmig, das heißt, an allen Stellen gleich gefügt, und sie sind zum zweiten ganzheitlich, das heißt, sie rufen den Eindruck eines jeweils festgefügten Ganzen hervor.

Auf diesen beiden Eigenschaften beruht die Eignung der Innensterne als Formraster für eine Lichtmusik. Die Gleichförmigkeit wird verlangt vom Wesen des Raumes und der Ebene : An allen Orten gilt dieselbe Geometrie. Die Gleichförmigkeit der Innensterne ermöglicht es, Figuren auf dem Raster zu verschieben, ohne daß Verzerrungen eintreten. Die Ganzheit schließlich gehört zum Wesen des Kunstwerkes.

Die Entdeckung der Innensterne führt zu einer neuen Art ..angewandter Mathematik". einer Geometrie, die einer neuen Gestaltung von Bildern ,und Filmen dient, einer neuen Bild- und Filmkunst. Sie eröffnet ein weites Arbeitsfeld für Mathematiker, Künstler, Computerkünstler und Grafiker, aber auch für die elektronische Industrie. die "Lichtorgeln" herstellen könnte, für das Fernsehen, die Film- und die Kassettenfilm-lndustrie.

Innensterne und Innenbilder zu entwerfen, ist eine ebenso erregende wie bildende Freizeitbeschäftigung, gleichgültig ob man nun zum Zeichenstift greift, sie malt oder klebt. Die hier wiedergegebenen Bilder können dabei als Anregung dienen. Sie zeigen, in welch vielfältiger Weise sich die Grundfiguren abwandeln lassen.

Unser Bild Seite 334 stellt den Grundgedanken der Innensterne dar. Das linke Teilbild gibt dabei das Überschneidungsgesetz des Sehens wieder.

Wir können zwei oder mehr Flächenstücke von einprägsamer Gestalt (zum Beispiel Kreise), die einander überschneiden, gleichzeitig als ganze Gestalten erfassen. Wir „sehen“ dann die Überschneidungsflächen gewissermaßen so, als ob sie mehrfach vorhanden wären, nämlich als Teilstücke aller Gestalten, die sich auf ihnen überschneiden. Das mittlere Teilbild zeigt 1 großes Quadrat (wir nennen es das Quadrat der Schicht 0), 9 mittlere Quadrate (Schicht 1) und 8] kleine (Schicht 2). Wir sprechen von einem "geschichteten Quadratpflaster der Verkleinerungszahl 113". Natürlich läßt sich die Einteilung entsprechend weiterführen. Das rechte Teilbild läßt einen großen Stern (Schicht 0) und neun kleinere Sterne (Schicht 1) der Verkleinerungszahl ] 13 erkennen. Die auftretenden Sterne heißen "Grundfiguren des Innensternes". Das Bild Seite 335 zeigt drei Schichten eines anderen Innensterns der Verkleinerungszahl 113, dessen Grundfiguren Zwölfecke sind. Es enthält

-          1 Grundfigur der Schicht 0,

-          9 der Schicht 1 und

-          81 der Schicht 2.

Wir können aber auch die einander überlappenden Sechsecke als Grundfiguren auffassen oder die Ringe aus je sechs Flächenstücken, die entstehen, wenn von den Sechsecken die zuerst genannten Zwölfecke abgezogen werden. Das Bild stellt somit einen "Linien-Innenstern" dar, dem drei "Flächen-Innensterne" zugeordnet sind: ein "Berührungs-", ein "Überlappungs-" und ein "Verknüpfungs- lnnenstern" . Ein schwarzweißes Innenbild des genannten Verknüpfungs-lnnensterns finden wir auf Seite 336:

Es besteht aus

-          1 Grundfigur der Schicht 0,

-          3 der Schicht l (im linken Bildteil),

-          22 der Schicht 2, die ein "M" bilden,

-          139 der Schicht 3, die sich zu dem stilisierten Schriftzug "Licht-Musik" verbinden, und

-          240 der Schicht 4, die fünf Schmuckreihen abgeben.

Die Farbe ist weiß, wo eine oder drei Grundfiguren, sie ist schwarz, wo keine oder zwei oder vier Grundfiguren den Untergrund überlagern.

Die nächste Abbildung zeigt vier Strichentwürfe für dreischichtige lnnenbilder und zwar für je ein Berührungs-, Verknüpfungs-, Überlappungsund Verschmelzungs-lnnenbild.

Wer Spaß daran findet, kann sie auf kariertem Papier oder auf der weißen Rückseite von Millimeterpapier nachzeichnen. (Auf einer weißen Unterlage schimmert der Raster durch!) Mit Farbfaserstiften oder mit Sprühfarben färbt man etwa den Randstreifen dunkelgrün und den Untergrund dunkelblau. Für die Teilfiguren der verschiedenen Schichten und der Schichtenüberlagerungen bieten sich dann etwa folgende Farben an: 0 gelb, 1 hellrot, 2 orange, 0 und 1 lila, 0 und 2 dunkelrot, 1 und 2 mittelblau, 0 und 1 und 2 hellgrün. Natürlich ist diese Farbgebung ebenso wie die Anzahl der erscheinenden „Grundfiguren“ nur ein Beispiel aus einer unübersehbaren Menge von Möglichkeiten. Man muß übrigens keineswegs die Grundfiguren derselben Schicht auch mit derselben Farbe belegen, sondern kann auch andere Form- und Farbkompositionen erproben.

Die Abbildung auf Seite 339 unten enthält weitere Grundfiguren der Schicht 2 für gute Flächen-lnnensterne. Der Leser mag diese lnnensterne untersuchen und sehen, ob es ihm gelingt, noch andere zu konstruieren und eine Ordnung dieser lnnensterne aufzustellen. Natürlich kann man auch lnnensterne der Verkleinerungszahl ½  und solche mit anderen Steigerungen für die Randlinien der Grundfiguren entwerfen.

Die Seite 341 zeigt drei farbige lnnenbilder, und zwar ein Überlappungs-, ein Verknüpfungs- und ein Überlappungs-Verknüpfungs-lnnenbild. Der lnnenstern des Uberlappungs-lnnenbildes eignet sich auch als Raster, um Gegenstände darzustellen. Die hier wiedergegebenen Bilder wurden mit durchscheinenden selbstklebenden Farbfolien der Marken "X-Film", "Folioplast" und "Regulus" geklebt.

Die Lichtmusik soll Spiele bieten aus Formen, Farben und Rhythmen, die bezaubern und seelisch bereichern, wie das die Musik tut. Solche lichtmusikalischen Werke werden mit „Lichtorgeln“ aufgeführt. Unser Bild Seite 339 oben zeigt, wie ein derartiges Gerät (im vorliegenden Fall für sechseckige Innenbilder der Verkleinerungszahl 1/3) aufgebaut werden könnte.

Die Sechsecke verschiedener Größen in der linken Zeichnung sind die Belegungstasten; ganz rechts ist die Sehscheibe wiedergegeben -zum besseren Verständnis mit einem lnnenstern, dessen Grundfiguren Dreiecke sind. Wird eine der Belegungstasten berührt, leuchtet die zugehörige Grundfigur auf der Sehscheibe auf. Mit Hilfe einer im mittleren Teilbild in Spalte 6 unterzubringenden Tastatur lassen sich auch zahlreiche andere Innensterne einstellen. Die jeweils gewünschten Farben können auf den Tasten der Spalten 2 und 3, der Weißanteil dazu und die Helligkeit auf denen der Spalten 1 und 4 gewählt werden. Die Tastatur in Spalte 5 ermöglicht es, die Gesetze für die "Mischfarben"-Bildung bei Überlagerungen von Grundfiguren festzulegen.

Ist ein Innenbild "getastet", wird es durch Niederdrücken einer weiteren Taste elektronisch gespeichert, wobei ihm der Spieler gleichzeitig eine bestimmte Zeitdauer zuteilt, mit der es im fertigen Innenspiel erscheinen soll. Wenn alle Einzelbilder eines lnnenspiels in die Lichtorgel eingegeben sind, kann das Innenspiel auf der Sehscheibe zum Ablaufen gebracht werden. Man kann sich auch Lichtorchester denken, bei denen die einzelnen Spieler jeweils nur ein Teilstück der Tastatur vor sich haben und bedienen. Später einmal werden die Grundfiguren ihre Farbe auch stetig ändern, Grundfiguren verschiedener Innensterne im selben Spiel und im selben Bild erscheinen, sich bewegen und verformen, größer und kleiner werden. In einem Werk der Lichtmusik könnte eine Grundfigur der gröberen Schichten ein rhythmisches Bewegungs-Färbungs-Thema anschlagen, sich also in bestimmter Weise springend oder gleitend bewegen und gleichzeitig die Farbe ändern. Andere Grundfiguren der gleichen Schicht oder der feineren Schichten könnten dieses Thema aufnehmen und abwandeln. Doch das ist dann schon eine höhere Entwicklungsstufe der Lichtmusik. Die verschiedenen BewegungsFärbungs-Linien würden dann ähnlich wie die Melodien in einer Fuge zusammenwirken, es entstünden „polyphone“ Werke. Aber auch „harmonikale“ Werke sind denkbar, und zwar a1s rhythmisch sinnvolle Aufeinaderfolecn von Form-Farb-"Klängen“, von Tonmusik begleitet.

Die Lichtmusik wird mit einfachen Werken beginnen. Erst wenn eine technische und künstlerische Tradition des Komponierens und des Sehens entstanden ist. können sie länger und schwieriger werden. Aber auch dann müssen die Künstler die Werke zeitlich aufbauen. Lichtwerke werden vom kleinen „Licht-Lied“ bis zur „Licht-Fuge“ und zur „Licht-Symphonie“ reichen. Die Lichtmusik wird zahllose Raster, Werkarten und Stile kennen sie wird Kitsch und Kunst bieten. Mittelware und zeitlose Offenbarung.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Neu gesetzter Nachdruck des 1973 erschienen Originaltextes aus:

Das Neue Universum, Nr 90 (1973), Union-Verlag, Stuttgart, S. 332-341

 

Dieser Text und viele andere Informationen zur „Lichtmusik“ stehen im Internet unter http://lichtmusik.info zur Verfügung.